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Anvar Araz

Der Konflikt zwischen dem Volk der Kurden und dem der Türken hat seinen Ursprung im Ersten Weltkrieg. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches besetzen England und Frankreich Istanbul und teilen das Reich nach ihren Interessen auf. Unter der Führung des Generals Kemal Atatürks tritt eine Widerstandsbewegung ins Licht der Öffentlichkeit, die auch die Kurden unterstützen. Als Gegenleistung verspricht man ihnen Gleichberechtigung und die Möglichkeit, einen eigenen Staat zu gründen, was nach dem Erfolg der Revolution allerdings wieder vergessen ist. Daraus resultiert eine Reihe von Konflikten, die 1984 ihren Höhepunkt erreichen. In diesem Jahr geraten auch die Assyrer (als Nachfahren der Christen des Vorderen Orients) zunehmend zwischen die Fronten, weil beide Seiten sie verdächtigen, mit der jeweiligen Gegenseite zu kooperieren.[3] Sie werden verfolgt, ihre Weiden werden zerstört und die Tiere gestohlen.

Anvar Araz

Zu dieser Zeit flüchten viele nach Deutschland, unter ihnen auch Anvar Araz. Der damals 14-Jährige kam 1984 mit seiner Familie nach Augsburg, in den Stadtteil Oberhausen. Wir lernten Herrn Araz über den Mesopotamien-Verein kennen, einen Zusammenschluss von Assyrern in Augsburg, der gegründet wurde, um ihre »Kultur zu beleben, zu pflegen, bekannt zu machen und an die Jüngeren weiterzugeben«.[4] In der Türkei lebte die Familie Araz in einem kleinen Dorf namens Enhil, das im Südosten des Landes liegt. Dort musste Anvar Araz am eigenen Leib erfahren, wie es ist, um sein Leben zu fürchten: »Manchmal kamen bewaffnete Muslime, um uns zu bestehlen, sie drangen einfach in die Wohnungen ein. Und wenn man sich als 12-Jähriger in der Ecke verstecken muss, ist das sehr schlimm. Man hat das Gefühl, dass man jeden Moment sterben muss.« Wegen der ständigen Verfolgungen gab die Familie ihr Leben in der Türkei auf, um nach Deutschland zu ziehen. Enhil war damals noch gar nicht ans Stromnetz angeschlossen:

»Technik hat praktisch nicht existiert.«

»Technik hat praktisch nicht existiert«, erzählt uns Herr Araz. Unter diesen Umständen war die Umstellung, mit einem Mal in der Flurstraße in Oberhausen zu wohnen, natürlich groß. Obwohl bereits Verwandte der Familie in Augsburg wohnten, fielen ihm die ersten Monate sehr schwer. Die größte Barriere war die Sprache, weshalb er auf die Kerschensteiner-Schule im Hochfeld ging, in der es eine multikulturelle Förderklasse gab: »Wir waren neun Nationen in der Klasse und keiner hat einen Brocken Deutsch gesprochen. Da hat man sich halt so durchgeschlagen.« Wie schwierig es war sich einzuleben, zeigt auch diese Anekdote: »Am zweiten Schultag sind ich, meine Schwester und mein Bruder alleine hin und zurück mit dem Bus gefahren. Wir haben gewusst, dass wir an dieser Haltestelle aussteigen müssen und sahen einen Knopf, auf dem stand ›STOP‹. Wir haben also überlegt, ob wir den drücken sollen, oder nicht. Wir hatten Angst, dass es vielleicht eine Vollbremsung geben könnte und wir dann ärger kriegen. Also haben wir nicht gedrückt. Wir hatten noch dazu das Pech, dass niemand an der Haltestelle gestanden ist, also sind wir weitergefahren.«
Herr Araz hat aber nicht nur schlechte Erinnerungen an seine Schulzeit. An Schulfesten durfte er mit seinen Geschwistern in assyrischer Tracht tanzen, was in der Türkei undenkbar gewesen wäre. Dort mussten sie ihre Kultur und Sprache (Assyrisch/Aramäisch) hinter verschlossenen Türen praktizieren, wurden in der Schule geschlagen, wenn sie in die Kirche gingen. Hier in Augsburg mussten sie sich nicht mehr verstecken und so wurden alle großen Feste im »XXL-Format« gefeiert, wie zum Beispiel das Assyrische Neujahr am 1. April. An einem solchen Festtag wurde eine Halle gemietet, es gab Live-Musik, Folklore-Tänze und der Gaumen kam auch nicht zu kurz. Aber auch Silvester ließ man nicht aus und Weihnachten wurde bis spät in die Nacht gefeiert: »Zwischen ein und drei Uhr ging es los – je nach dem, wann wir die Kirche bekommen haben. Und bis dahin haben wir immer Spiele gespielt.«

Anvar Araz

Mit freudigem Lächeln berichtet uns Herr Araz, dass es auch im Alltag nie langweilig wurde und er seine Freizeit größtenteils mit Fußballspielen verbrachte: »Drei Tage die Woche waren Minimum«, entweder bei seinem Verein, dem TSV Schwaben, oder auch einfach im Hof vor der Haustür mit Freunden. Sie hatten alle die unterschiedlichsten kulturellen Hintergründe, kamen zum Beispiel aus der Türkei, Italien oder Jugoslawien. Im Laufe der Zeit entwickelte sich der Hof zu einem Treffpunkt für Jugendliche. Außerdem nahm Herr Araz regelmäßig an Treffen des Mesopotamien-Vereins teil, bei denen unter anderem Spiele aus der Heimat gespielt wurden, wie Mendelo, das große ähnlichkeit mit Tauziehen hat, und beteiligte sich aktiv an Vereinsarbeiten. Zeit dafür war genug: »Ich musste sehr wenig im Haushalt helfen.« Herr Araz wuchs in einer Großfamilie mit sechs Schwestern, drei Brüdern, seinen Eltern und seiner Oma auf. »Bei acht Frauen im Haushalt musste ich nicht mehr viel tun«, erzählt er uns und lacht.

»Bei acht Frauen im Haushalt musste ich nicht mehr viel tun.«

Zu guter Letzt sprechen wir ihn noch auf den Mauerfall an, den er, wie er berichtet, als sehr emotionalen Moment empfand: »Es ist zwar nicht mein Volk, aber ich sehe Deutschland als meine zweite Heimat. Ich träume davon, dass sich auch die Assyrer irgendwann vereinigen.«

Text: JOHANNES SEEBERG