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Gerd Geittner

Heute sind wir bei Herrn Gerd Michael Geittner eingeladen, um ihn über seine Kindheit in Oberhausen zu interviewen. Als wir in das freundlich gestaltete Wohnzimmer geführt werden, in dem das Interview stattfinden soll, stellen wir zu unserer Verwunderung fest, dass sich dort auch bereits Frau Gertraud Steiner eingefunden hat, die Schwester von Herrn Geittner. »Ich möchte nur sicherstellen, dass er auch ja keinen Blödsinn erzählt«, begründet sie ihre Anwesenheit uns gegenüber mit einem Lächeln.

Gerd Geittner

Der passionierte Ringer mit Spitznamen »Muckse« ist als ein Bewohner der ehemaligen Gaswerkkolonie mit seiner zweieinhalb Jahre älteren Schwester im Zentrum Oberhausens aufgewachsen. Geboren ist er dort jedoch nicht, denn aus Angst, das Gaswerk könnte von einer Bombe getroffen werden, zog die Mutter mit ihren zwei Kindern bis Kriegsende auf den Bauernhof eines Bekannten in Igenhausen. »Mein Vater musste im Krieg an die Westfront, deswegen konnte er nicht mit uns gehen. Auf dem besagten Bauernhof bin ich dann am 12.03.1944 auf die Welt gekommen.« Unter der amerikanischen Besatzung aufgewachsen, verbrachte Herr Geittner einen Großteil seiner Kindheit in der noch heute in Oberhausen bekannten Wirtschaft »Bayerischer Löwe«, die damals einem Onkel gehörte.
Den Spitznamen »Muckse« hat Herr Geittner von seinem Vater übernommen. »Im Gaswerk haben sie immer gesagt: ›Schau, da kommt der junge Muckse‹.« Auch während der Schulzeit sowie in der Lehre wurde er eher selten von seinen Mitschülern beim Vornamen genannt. Wie seine Schwester besuchte auch Gerd acht Jahre lang die Kapellenschule in Oberhausen. Auf unsere Frage hin, ob er sich damals als einen guten oder schlechten Schüler beschrieben hätte, muss Herr Geittner schmunzeln. »Meine Noten waren nicht immer die besten, auch mein Betragen war nicht immer vorbildlich.« Außerdem erfahren wir, dass Herr Geittner nicht gern in den Unterricht gegangen ist, was nicht zuletzt auf die streng autoritäre Lehrstoffvermittlung zurückzuführen ist. »Ich habe fast jeden Tag Tatzen, also Schläge mit einem Rohrstock auf die Handfläche, bekommen – manchmal auch wegen gar nichts.«
»Du wirst es aber auch schon mal verdient haben«, fällt ihm seine Schwester belustigt ins Wort. »Ich habe nie so viele bekommen wie du«, betont sie mit einem ironischen Unterton. Ein besonders unruhiger oder auffälliger Schüler sei Gerd jedoch trotzdem nicht gewesen.
In der Berufsschule, die Herr Geittner mit 14 Jahren während seiner Ausbildung zum Automechaniker bei der heute zur MAN gehörenden Firma Büssing besuchte, verbesserten sich seine Leistungen stetig. »Neben einem guten Zeugnis hatte ich dann sogar ein gutes Betragen.« Im Unterschied zur Schule lag das für Herrn Geittner vor allem an den freundlicheren und im Umgang menschlicheren Lehrern. »Während der Schulzeit wurde ich kein einziges Mal von den Lehrern mit Gerd angesprochen, immer nur mit Geittner, da herrschte eine ziemlich große Distanz zwischen mir und ihnen. Das war in der Berufsschule dann nicht mehr so, da war alles irgendwie lockerer.« Gerd Geittner beim RingenMit der Schule an sich verbindet Herr Geittner jedoch auch etwas Positives, das Ringen. Mit gerade mal sechs Jahren begann er in der Kapellenschule das harte Training. Ringen muss wohl im Blut der Familie Geittner liegen, der Vater und Großvater übten diese Sportart schon mit großer Begeisterung aus. Mit einem stolzen Lächeln im Gesicht listet Herr Geittner uns die in seiner gesamten Laufbahn errungenen Siege auf: »Ich war einmal bayerischer Meister, etwa 25-mal schwäbischer und zufälligerweise dreimal Siebter bei den deutschen Meisterschaften.«
»Der war damals schon fit«, stimmt ihm seine Schwester zu. Anfänglich trainierte Gerd in einem Verein in Oberhausen namens »Augusta«, später dann beim TSV-Kriegshaber.

Gerd Geittner Wie jeder andere Junge auch, verbrachte Gerd nach dem Sport und den – manchmal – gemachten Hausaufgaben einen Großteil seiner Zeit im Freien. »Wir haben Räuber und Gendarm im Hof gespielt, oftmals in ganzen Scharen von Kindern – ihr müsst wissen, die Gaswerkkolonie war damals ein sehr junges Viertel.« Neben Schussern mit Tonkugeln (ähnelt Boccia) und »Pfennig-Betzen«, bei dem es Ziel ist, seinen Pfennig näher an eine Mauer zu werfen als ein anderes Kind, erkundete Gerd auch mal gerne das Firmengelände des Gaswerks. »Ich habe heute noch eine Narbe vom Zaun, über den man klettern musste, um da hineinzukommen – lang waren wir da jedoch nie, man hat uns immer sehr schnell verjagt«, berichtet er uns sichtlich belustigt. »Ich bin da nie drübergestiegen, ich war brav«, sagt seine Schwester neckend. »Du wolltest, hast dich aber nie getraut«, kontert Herr Geittner und beide lachen hell auf. An heißen Sommertagen ging Herr Geittner oft zum Schwimmen. Häufig hätte man ihn dann am Ammersee oder im Plärrer-Freibad antreffen können. »Ab und an haben meine Freunde und ich uns auch in das kostenpflichtige Plärrer-Familienbad geschlichen – aber wirklich nur manchmal.« Ansonsten ging Gerd auch mal ins Kino oder lauschte Hörspielen wie beispielsweise »Dickie Dick Dickens«. Da die Mutter oftmals in der Wirtschaft des Onkels »Bayerischer Löwe« aushalf und sie die Geschwister nicht alleine zu Hause lassen wollte, kamen die beiden kurzerhand mit. »Da gab es so einen Automaten mit zwei Knöpfen, da musste man Geld einwerfen und dann kam Strom raus. Meine Freunde und ich sind dann immer hingegangen und haben getestet, wer mehr Stromschläge aushält«, erinnert sich Gerd und bricht in Lachen aus: »Das hat manchmal schon richtig gezogen.« Alleine in Wirtschaften ging Herr Geittner erst mit 15 Jahren, als er bereits in der Lehre war. Als wir auf das Thema Familienleben zu sprechen kommen und fragen, ob sich denn die beiden Geschwister, wie so oft üblich, häufig gestritten haben, entsteht ein kleiner ironischer Streit. »Du musst wissen, meine Schwester hat immer mehr zu essen bekommen wie ich, weil sie älter und zierlicher war – das war nicht wie heute, wir hatten damals einfach nie genug für alle. Darum musste ich mich dann noch zusätzlich an ihrem Teller bedienen«, erzählt uns Gerd grinsend.
»Du hattest immer Hunger, immer. Und ich konnte mich ja nur so schlecht gegen ihn verteidigen, selbst wenn ich ins Essen gespuckt habe, hat ihn das nicht interessiert«, erwidert seine Schwester. »Ja, das war mir egal, ich war zwar jünger, aber stärker. Wenn wir uns mal richtig gestritten haben, dann hat die mich immer an den Haaren gezogen, drum habe ich heute nur noch so wenige«, berichtet uns Herr Geittner sichtlich amüsiert und fährt fort: »Wenn ich sie danach verfolgt habe, dann hat sie sich aber auf Vaters Schoß versteckt. Dann hatte ich keine Chance mehr – da hat mir die Kraft auch nicht viel genützt.«
»Also war ich letzten Endes doch die Siegerin«, beendet seine Schwester die kleine ironische Auseinandersetzung. Ansonsten ging es im Hause Geittner sehr gesittet zu. »Wir mussten uns schon benehmen, vor allem wenn Nachrichten im Radio liefen, da mussten wir mucksmäuschenstill sein.« Während der Vater arbeitete, war die Mutter mit den zwei Kindern allein zuhause und sorgte für sie.

Zu essen gab es vor allem Mehlspeisen unterschiedlichster Art. »Wir hatten damals nicht so viel Geld, weshalb es eben nicht jeden Tag mein Leibgericht Schweinsbraten mit Knödel geben konnte, zum Glück aber auch nicht jeden Tag Spinat«, erzählt er uns schmunzelnd. »Südfrüchte kannten wir beispielsweise gar nicht.« An Sonn- und Feiertagen war wie in vielen anderen Familien der Kirchengang ein gewohnheitsmäßiges Ritual. »Da bin ich nie gerne hingegangen, nicht weil ich nicht an Gott glaubte, sondern weil ich einfach als junger Bub andere Dinge im Kopf hatte als die Kirche. Ich bin dann, wenn die Kirche aus war, immer davor rumgeschlichen und habe Freunde, die drinnen waren, gefragt, was gepredigt wurde, damit ich auf Nachfrage meiner Eltern antworten konnte.« Abends wurden die beiden Geschwister regelmäßig zum Bierholen für den aus der Arbeit kommenden Vater geschickt. »Ich habe viel häufiger Bier holen müssen wie der«, führt Gerds Schwester lächelnd an. Geburtstage wurden in seiner Kindheit eher weniger gefeiert, dafür Weihnachten und Namenstage. »An Weihnachten hat man dann halt mal einen Pullover oder so was geschenkt bekommen. Das hat uns damals aber auch gereicht, wir waren das ja nicht anders gewohnt, außerdem hatten unsere Eltern ja auch nicht genug Geld, um uns Geschenke zu kaufen«.

über die amerikanischen Besatzer kann Herr Geittner kein schlechtes Wort verlieren. Im Gegenteil, sie seien eigentlich alle sehr kinderfreundlich gewesen. »Als ich so ungefähr zehn Jahre alt war, bin ich ab und zu zu so einem Amerikaner hin und hab den angebettelt. ›You please zehn Pfennig‹, hab ich gesagt, und oft haben sie dann das Kleingeld aus ihren Taschen mir gegeben – waren aber nie mehr als rund 5 Pfennig, was aber zur damaligen Zeit schon recht viel war.« Unter der amerikanischen Besatzung sah Herr Geittner auch das erste Mal einen Afro-Amerikaner, über die er ebenfalls kein böses Wort verliert. »Natürlich haben die manchmal gerauft und gestritten, aber wenn dann nur unter sich.«Gerd Geittner Abschließend bitten wir Gerd Geittner, ein kurzes Resümee seiner Kindheit abzugeben. »Wisst ihr, wir wurden damals noch richtig erzogen, kein Vergleich zu heute. Bei uns hieß es ›Setz dich und halt den Mund‹, und dann hast du das auch ohne Widerworte gemacht – kein Vergleich mehr zu heute«, sagt er mit leichter Empörung. »Zu Oberhausen bzw. der Gaswerkkolonie kann ich nicht viel sagen, es hat sich heutzutage alles verändert, man trifft niemanden mehr von damals. Wisst ihr, diese Gemeinsamkeit, jeder kennt jeden, dieser freundliche Umgang und der Respekt vor anderen sowie vor anderem Eigentum wie damals, das gibt es heute nicht mehr. Es hat sich alles verändert, auch äußerlich.

Meine Kindheit war zwar hart, aber dennoch schön. Ich habe sehr viele schöne Erinnerungen, die ich für immer mit mir tragen werde.« Bei den Worten von Herrn Geittner bricht seine Schwester, berührt durch die aufgeweckten Erinnerungen, in Tränen aus und fährt für ihn fort: »Keiner kann sagen, dass wir eine leichte Kindheit hatten, so was wie Hunger kann sich doch heutzutage kein Kind in Deutschland mehr vorstellen. Auch hatten wir nicht viel Geld, aber es war eine schöne und vor allem unbeschwerte Zeit. Wir konnten bis zu einem gewissen Alter, bis wir arbeiten mussten, noch richtige Kinder sein. Auf uns lasteten noch nicht so viel Verantwortung und Ansprüche der Gesellschaft. Wir waren einfach noch richtige verspielte Kinder.«

Text: MATTHIAS ABBT, SEBASTIAN KIERA & CHRISTIAN SPÖRL