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Otto Kreidenweis

1922 kam Otto Kreidenweis im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie von seinem Geburtsort Paunzhausen nach Augsburg-Oberhausen. Bis heute lebt er hier. Ich treffe ihn im Oberhauser Museumsstüble und erfahre Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend hier in Oberhausen, aber auch aus Krieg und Gefangenschaft.

Seine frühe Kindheit verbrachte Otto Kreidenweis in der Bachstraße am Hettenbach, meist zusammen mit seinem Cousin. Die ganze Familie, Großeltern, Onkel und Tanten, wohnten zu dieser Zeit in der Bachstraße 4. »Manchmal sind wir an die Wertach runter, unter die Dieselbrücke, und haben Fische gefangen, barfuß natürlich. Damals ist man auch barfuß in die Schule gegangen. Für mein erstes Geld, das ich als Geselle verdient habe, habe ich mir ein Paar Schuhe schicken lassen. Schöne braune Schuhe, mit einer Lackkappe vorne. Ich kann mich noch gut an meine sehr geschätzten Schuhe erinnern.« Es kam einer Katastrophe gleich, als einmal beim Fußballspielen die Lackkappe abriss. Kaum einer konnte es sich leisten, zum Schuhmacher zu gehen. »Das hat alles der Vater erledigt.« Mit primitiven Treibriemen aus Fabriken wurden Schuhe selbst repariert. In jedem Haushalt gab es einen Dreifuß, auf dem die Schuhe genagelt wurden. Die Mutter strickte viel. Von den Socken bis hin zur Mütze wurde alles selbst gestrickt. Die Kinder trugen kurze Hosen und Baumwollstrümpfe. »Wenn einer lange Hosen angehabt hat, dann war er vom Land, ein Bauernbua. Wir haben nur kurze gehabt.«

In seiner Freizeit spielte Otto Kreidenweis gerne Fußball. Aus dem BCA, dem Ballspiel-Club Augsburg, ging später der FCA hervor. »Wo bekommen wir Fußballschuhe, wo ein Trikot her?« – das sind Fragen, die die Jungs damals beschäftigten. »Wenn wir mal gewonnen haben, hat jeder vielleicht eine Breze gekriegt, wenn es hoch gekommen ist vielleicht ein Bockwürstle und eine Limonade dazu. Und wenn wir ein Spiel hatten, in Lechhausen beim Teutonia, oder bei FC Union, dann sind wir eben zu Fuß dorthin gelaufen.«
Damals gab es keine anderen Vergnügungen. Es gab keinen Fernseher, Radios waren eine Seltenheit. »Ja so war das, in unserer Kindheit.« Otto Kreidenweis erzählt, dass er einmal in den Hettenbach gefallen ist. »Der Weißhaupt – wir waren ja mehrere – der hat mich dann schon wieder rausgezogen.« Der Hettenbach war Lebensader und Ersatz für die fehlende Kanalisation zugleich. Man badete darin, surfte auf einer Art Surfbrett, oder entsorgte eben seinen Abfall.
»Wir waren viel im Wald. Im Sommer fast jedes Wochenende.« In der Früh ist man losgelaufen, man hat ja Zeit gehabt, und hat dann den ganzen Tag im Wald verbracht. Das Nahziel war Täfertingen. »Am Fuchsberg war eine Quelle, da haben wir unser Wasser geholt.« Manchmal, wenn ein Waldfest war, hat man sich dort beteiligt. »Wurstschnappen, Eierlaufen oder Sackhüpfen. Was man halt heute auch noch macht«, erinnert sich Otto Kreidenweis. Brotzeit hat man natürlich mitgenommen. Nur ganz selten ist man in der Wirtschaft in Täfertingen noch eingekehrt. Der Vater hat dann seine Maß Bier getrunken und die Kinder bekamen ein Stück Brot mit Streichwurst.
Auf das Weihnachtsfest hatte man gespart. »Das war vom Essen her schon etwas Besonderes.« Die Familie besaß einen Garten. Sie hatte immer zehn Gänse und einen Truthahn. »Neun Gänse haben wir verkauft, und eine für uns selber behalten. Das war schon etwas Besonderes.« Auch Geschenke wurden meist selbst gemacht. Der Vater fertigte zum Beispiel ein Puppenhaus oder einen Kaufladen. Herr Kreidenweis zeigt mir eine Reihe von Puppenhäusern im Oberhauser Museumsstüble. »Vor Weihnachten ging es in der Wohnung immer sehr geschäftig zu.«

1929 zog Otto Kreidenweis in den Eschenhof, wo seine Eltern Hausmeistertätigkeiten verrichteten. In der Lehrzeit verdiente er fünf Mark pro Woche. Vier lieferte er bei den Eltern ab. Eine einzige Mark blieb ihm zur freien Verfügung. Mit seinem engsten Freund, dem Meier Schorsch, besuchte er gerne die Kammerlichtspiele am Schmiedberg. »Kartoffelkeller haben wir damals gesagt.« Der Kinoeintritt kostete 80 Pfennig. Otto Kreidenweis lacht: »Und für die 20 Pfennig haben wir uns halt da unten Zigaretten gekauft. Die haben wir dann auf dem Heimweg geraucht, bis uns schlecht war.« Wer in der Lehre war, musste natürlich früh raus. Man fing um 7 Uhr an und arbeitete acht Stunden. »Da hast du natürlich geschaut, dass du abends in dein Bett reinkommst. Außer am Wochenende.« Fritz, einem Jungen mit Kinderlähmung, spendierten Otto Kreidenweis und seine Freunde manchmal eine Brotzeit. 80 Pfennig kostete Schinken mit Ei und Salat. »Wenn jeder ein Zehnerle dazugibt, geht das schon.«
Die Jugend machte Blödsinn. Die Jungs leisteten Mutproben für 10 Pfennig oder nockelten so lange an einem Verkehrsschild, bis es abbrach – im Grunde alles wie heute. Sie spielten Karten, Schafkopf zum Beispiel, oder feierten schöne Feste.

»Diese Jugend ist mir viel zu schnell vergangen.«

Doch die Kindheit von Otto Kreidenweis hatte ein plötzliches Ende. Im Alter von 19 Jahren wurde er zur sogenannten Ableistung der zweijährigen Dienstpflicht einberufen. »Die Kasernen wurden geräumt, die Soldaten kamen alle schon nach Polen. Und da haben sie mit uns eben die Kasernen aufgefüllt.«
Otto Kreidenweis wurde am 31. August 1939 Soldat. Einen Tag später, am 1. September, begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen überfall auf Polen. Er wurde zunächst als Kradmelder ausgebildet, später als Waffenmeistergehilfe. Die Ausbildung dauerte so lange, dass er den Frankreichfeldzug nur noch in seinen letzten Zügen miterlebte. Ganz am Ende hätte er noch einmal an die Front gemusst. Glücklicherweise war er damals bei KUKA unabkömmlich. Eine Magenschleimhautentzündung und ein Magengeschwür bewahrten ihn zwar noch vor Teilen des Frankreichfeldzuges, dann musste er jedoch nach Russland. Es folgten vier Jahre in russischer Gefangenschaft. Die Gefangenen wurden entwaffnet und ausgeraubt. »Als mein Nebenmann seine Feldflasche nicht hergeben wollte, musste er mit seinem Leben bezahlen.« Außer ein paar Scheiben von trockenem Brot gab es in den nächsten drei Tagen nichts zu essen. Viele Kameraden von Otto Kreidenweis starben während der Gefangenschaft, weil sie schlechtes Wasser getrunken hatten. »Das kann man nicht vergessen. Das kommt mir nachts heute noch. Die ganzen Geschichten, das ganze Erlebte.« Schießereien, Lichtraketen und Freudenfeiern der Rotarmisten ließen am 8. Mai 1945 erahnen, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war.
Nach vier Jahren in verschiedenen Gefangenenlagern, harter Arbeit in einer Traktorenfabrik und in einem Torflager sowie Erzabbau in einem Uranbergwerk reifte in ihm der Entschluss zu fliehen. Am 19. März 1949 gelang Otto Kreidenweis und acht seiner Kameraden die Flucht. Nach einigen Tagen kam er glücklich in Augsburg an.

»Man muss immer ein bisschen Glück haben im Leben. Sonst brauchst du ja gar nicht erst auf die Welt kommen.«

Viele seiner Verwandten sind nach Amerika ausgewandert. Allen voran die Schwester seiner Mutter. Otto Kreidenweis blieb in Oberhausen. »Wenn ich meine jetzige Frau nicht kennengelernt hätte, wäre ich vielleicht auch gegangen.« Bis heute wohnt er in Oberhausen. 1952 hat er geheiratet und feierte am 8. November 2012 Diamantene Hochzeit. Er hat einen Sohn, 52 Jahre, außerdem hat er zwei Enkel. »Ich bin mit meinem Leben hier in Oberhausen bisher eigentlich sehr zufrieden.«

Text: JOHANNES AMMON