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Leonhard Marz

Wir treffen Leonhard Marz in Steppach, seiner Heimat seit 1970. Doch geboren wurde er 1935 in Oberhausen, sogar am gleichen Tag wie der frühere König Ludwig II. Darauf ist er sehr stolz.

Unsere erste Frage richtet sich an seine freudigen Erinnerungen, die er an seine Kindheit in Oberhausen hat. Darauf antwortet er mit einer kleinen Geschichte: »In der Vorkriegszeit sind wir ruhig und behütet aufgewachsen. StrassenreinigungErinnern kann ich mich an die Wasserspritzanlagen der Straßenreinigung in der Bahnstraße, welche heute die Petelstraße ist. Es war für uns alle eine Sensation, denn die kam einmal im Monat und alle Kinder standen in Badehosen auf der Straße und warteten auf den Spritzenwagen. Wir waren zwar klatschnass, aber es war ein Heidenspaß und eine Riesengelegenheit, sich gegenseitig nass zu spritzen.« Außerdem erzählt er uns von den zwei großen Kinderspielplätzen am Oberhauser Bahnhof, auf die die Oberhauser damals sehr stolz waren und die eine Attraktion für die Kinder darstellten. 1941 wurde Leonhard Marz eingeschult. Er verdeutlicht uns mit schmunzelndem Gesicht die frühere Strenge in der Schule: »Die Lehrer haben keine Gelegenheit ausgelassen, ihre Macht zu demonstrieren! Unser Lehrer hat uns nur mit Buchstaben benannt. Wir sind streng durch die Schulzeit gegangen und das ging bis in die gehobenen Klassen.«
Doch auch zuhause war die Erziehung streng, erfahren wir von Herrn Marz. Trotzdem befindet er sie als eine Meisterleistung der Mütter, die ihre Familien ohne Hilfe der Väter, die im Krieg waren, durchbringen mussten.

Die Freizeitaktivitäten von Herrn Marz waren geprägt von dem Viertel, in dem er wohnte. Oberhausen war in Gebiete eingeteilt und das Gebiet von Leonhard Marz reichte von der Bahnstraße bis dorthin, wo früher das Bahngleis Augsburg-Ulm-Donauwörth war. »Die Bahngleisrampe war unser Spielplatz, also sehr gefährlich«, berichtet er uns. Später, als er älter wurde, durfte er das Stellwerk als Dank für seine Disziplin in natura erleben. Er und seine Freunde durften es unter Aufsicht bedienen. »Wir haben Sachen dort gebaut, die wir auch untereinander tauschten. Auf der Schiene wurde eine Aluscheibe mit Kaugummi fixiert, mit Kaugummi ein Pfennigstück daraufgeklebt und auf den nächsten Zug gewartet. Das war ein Heidenspaß«, erzählt er und lacht herzhaft. Im Winter hat er Eishockey auf den Straßen gegen andere Straßenmannschaften, zum Beispiel den Eschenhof, gespielt. Es waren regelrechte Volksfeste. Alle Nachbarn haben geholfen die Eisfläche zu präparieren und über Nacht zufrieren zu lassen, um am nächsten Tag das Turnier abhalten zu können.

Doch ab 1943, der Zeit der Luftangriffe, hat sich seine Kindheit schlagartig verändert. Sein Leben war von ständiger Angst erfüllt. Leonhard Marz ging auf die Kapellenschule, die nur 500 Meter von seinem Zuhause entfernt war. Bei Fliegeralarm mussten die Schüler alles stehen und liegen lassen und sich aus den Klassenzimmern zu den Wohnungen in die Luftschutzkeller retten, und das schon in der zweiten und dritten Klasse. Er spricht immer noch mit Respekt vor dieser Zeit: »Unsere Mütter haben uns ängstlich erwartet. Wir haben eben durch die strenge Erziehung gewusst, um was es geht.« Dazu kamen noch nächtliche Angriffe, oft ein- oder zweimal pro Nacht, die bis zum Morgen anhielten und die Kinder in dauernde Angstzustände versetzten. An diesen Tagen sind Schultests nicht besonders gut gelaufen.
1944 verschlimmerte sich die Situation. »Am Tag nach einem­ schweren Angriff hat unsere Familie drei Nachbarn in unsere 60 Quadratmeter große Wohnung mitaufgenommen, da ihre Wohnung zerstört wurde.« Somit lebten fünf Erwachsene und er, als einziges Kind, zwei Jahre lang in der kleinen Wohnung. Da seine Mutter genug Sorgen mit sich selbst hatte, musste er später zu seiner Oma und seiner Tante ins Allgäu, da ihm dort nichts passieren konnte.
Doch der Schock kam dafür später. Als Leonhard Marz 1946 in der Nachkriegszeit wieder nach Oberhausen zurückkehrte, erkannte er es nicht mehr wieder. »Mein Vater war noch in Gefangenschaft in England, die Kirchen waren ausgebrannt, die Schulen waren zum Teil zerstört, es herrschten Ausgangssperren untertags und nachts, und wir mussten uns mit Lebensmittelmarken begnügen. Anstatt wieder regelmäßig zur Schule gehen zu können, wurden wir oft zum Kartoffelkäfersammeln verdonnert. Für viele Schul­kameraden wurde der Schulweg sehr weit. Wir hatten einen Spätaufsteher in unserer Klasse, der sich in seiner Not im Weihwasserbecken der Notkirche gewaschen hat, sodass er wenigstens nicht immer zu spät kam.«
Die Ruhe kam erst 1948 zurück. Er und seine Klasse haben mitgeholfen, Dachziegel auf die zerbombte St.-Peter-und-Paul-Kirche zu tragen, die Ende Oktober dann auch eingeweiht wurde. »Das war viel Arbeit und es gab keine Brotzeit, aber wir waren sehr stolz darauf, mitgeholfen zu haben«, berichtet uns Herr Marz mit einem Lächeln auf den Lippen. 1948 kamen außerdem die ersten Schulsportspiele in Mode, die aus Amerika kamen, wobei sich alle Schüler und sogar Lehrer beteiligten. Ein weiteres schönes Ereignis folgte, als sein Vater einigermaßen gesund aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehrte.

»Das Weihnachtsfest wieder mit meinem Vater zu verbringen war einmalig. Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.«

Leonhard Marz

In der Zeit gab es keine Kohle zu kaufen, man musste also mit Holz heizen. Da seine Oma schon über 80 Jahre alt war, musste die Wohnung immer mehr als 20 Grad haben. Wenn Kohletransporte auf dem Bahngleis vorbeifuhren, klaute er die heruntergefallenen Brocken, um sie zu Hause zum Heizen zu nutzen. Herr Marz merkt an, dass es sehr hart bestraft wurde, wenn man erwischt wurde. Aber anlässlich dieses Weihnachtsfestes, an dem er wieder mit Vater und Mutter vereint war, wollte er etwas Besonderes machen. Er berichtet uns von einem einmaligen Fund: »Ich bin rausgegangen mit meinen dünnen Schuhen, meiner Windbluse aus Fallschirmstoff und meiner Mütze mit Ohrenschützern. Da habe ich ein riesiges Stück beste Fettkohle gefunden. Die ganze Kohle habe ich dann in die Windbluse eingewickelt und hab sie heimgetragen. Dann bin ich nochmal rausgegangen und nachdem der Stoff schon so dreckig war, habe ich meine Mütze voll mit Kohlen gefüllt und bin nach Hause gelaufen. Alles war dreckig, aber das war mir egal, denn ich hatte ja die Vorfreude auf mein schönstes Weihnachtsfest.« Etwas Besonderes war auch der Christbaum. Die Familie Marz hatte keinen Christbaum, also holte sich Leonhard Marz draußen Zweige von Kiefern oder Tannen. In einen alten Besenstiel, den er aufgetrieben hatte, bohrte er Löcher, in die er dann die Zweige hineinsteckte. »Als die Bescherung kam, gab es allgemeines Gelächter wegen dem Christbaum, weil er abgeknickt war. Das war lustig und etwas Besonderes«, lacht Herr Marz.

Nun fragen wir, wie es mit der Berufswahl damals aussah, die Leonhard Marz 1949 bevorstand. Die Bombenangriffe hatten Zerstörungen verursacht, die ihm keine Chance boten, eine höhere Schule zu besuchen, da alle in der Nähe zerbombt waren. Er wich auf den zweiten Bildungsweg aus und wurde von Ingenieuren bei MAN unterrichtet. »In Mathematik und Physik fingen wir mit dem Stoff der siebten Klasse an. Es gab eine Probezeit von drei Monaten, und das Wissen das gefehlt hatte, mussten wir selbst erlernen, ansonsten wurden wir nicht übernommen. Wir sind ohne große Vorbildung der Berufswelt ausgeliefert worden und haben keinen Abschluss gehabt«, erzählt er uns von einer Zeit, die für ihn sehr anstrengend war. Es gab bei ihm 92 Bewerber und nur zwei wurden genommen, einer der Glücklichen davon war er. Sein Vater war Ingenieur und brachte ihm das Rechnen mit dem Rechenschieber und viele andere Dinge bei, die ihm sehr geholfen haben. Später lernte er Gießerei- und Maschinenbautechnik, aber das hat er sich selbst finanziert. Schließlich kam die Zeit der PCs und die Arbeit wurde aufgespalten zwischen alt und jung. Die meisten älteren wollten mit diesen Geräten nichts mehr zu tun haben. Leonhard Marz dagegen besuchte eine Programmierschule, um die Neuerungen zu erlernen. Später war er dann Gruppenleiter in der Auftragsabwicklung.

1958 traf Herr Marz die Entscheidung, aus Oberhausen wegzuziehen. Seine Frau kam aus Mering und bekam zur damaligen Zeit keine Zuzugsgenehmigung nach Augsburg ohne verheiratet zu sein. Also heirateten Herr und Frau Marz und zogen zusammen nach Neusäß. Herr Marz erzählt uns: »Meine Eltern haben noch in Oberhausen gelebt bis 1970. Dann ist meine Mutter gestorben.« Sein Vater lebte anschließend noch über 20 Jahre bei ihm und seiner Familie, bis sie schließlich 1970 nach Steppach zogen, wo er auch heute noch wohnt.

Zum Schluss sagt uns Herr Marz, dass er heute noch jedes Jahr ein Klassentreffen organisiert, aber die Klassenstärke sich leider von 49 Schülern auf 18 Kameraden vermindert hat. Letztes Mal kamen nur noch 12 von ihnen, wobei er mit 77 der jüngste war. Aber er erinnert sich trotz allem gerne an seine Schulzeit und an seine Kindheit zurück und freut sich jedes Jahr aufs Neue auf das Klassentreffen.

Text: NICOLE MARZ & LISA REITH