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Gertraud Steiner

Am vereinbarten Treffpunkt für das Interview angekommen, werden wir freundlich von Frau Steiner, einer ihrer Töchter samt Kindern sowie ihrem Ehemann begrüßt. Sofort wird sich, wie selbstverständlich, nach unserem Wohlergehen erkundigt. Dankend nimmt jeder von uns ein Radler entgegen, das uns angeboten wird, bevor wir uns auf die im Sonnenschein liegende, von Blumen umrankte Terrasse setzen, um mit dem Interview zu beginnen.

Gertraud Steiner

Gertraud Kreszenzia Steiner wurde am 20.11.1941 im Wöchnerinnenheim in Augsburg geboren. Zweieinhalb Jahre später hielt sie die Hand ihrer Mutter während der Geburt ihres Bruders Gerd Michael Geittner. Als wir sie zu dieser Begebenheit genauer befragen, sagt sie: »Ich war einfach ein Mama-Kind und konnte nie von ihr loslassen«. Aufgewachsen ist sie in der Gaswerkkolonie in Oberhausen, das damals noch unter amerikanischer Besatzung stand. Dort verbrachte die etwas kränkliche Frau Steiner die schönste Zeit ihres Lebens.

Während der achtjährigen Schullaufbahn an der Oberhauser Kapellenschule konnte sich Frau Steiner vor allem eher für praktische Fächer wie Sport, Handarbeiten und Musik begeistern. »Das waren so meine Fächer, muss ich sagen.« Eine besonders strebsame Schülerin sei sie nie gewesen, was mitunter auch an der fehlenden Motivation von Seiten des Elternhauses gelegen haben mag. »Meinen Eltern war es egal, ob ich lerne oder nicht – letztens ist mir ein altes Zeugnis in die Hände gefallen, auf dem steht: ›In letzter Zeit wird die Gertraud etwas geschwätzig‹«, berichtet sie uns leicht lächelnd. »Zuerst war ich froh, aus der Schule raus zu sein, als ich dann aber im Beruf war, sah das wieder ganz anders aus.« Bereits mit 13 Jahren wurde Frau Steiner von der Firma »Elbeo«, welche Damen- und Herrenstrümpfe herstellte, eingestellt. »Die haben mich da gleich genommen, weil ich gute Handarbeitsnoten hatte.« Nach der Absolvierung eines Berufseinführungsjahres musste sie von Montag bis Freitag von sieben Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags im Akkord als Repassiererin oder Webgutnacharbeiterin arbeiten. Der Samstag war nur ein halber Arbeitstag. Damals waren eine Viertelstunde Pause am Vormittag und eine halbe Stunde Pause am Nachmittag durchaus üblich. »Zu diesem Zeitpunkt habe ich mir gewünscht, wieder in die Schule gehen zu können«, erzählt sie nachdenklich. Schon während der Schulzeit hatte Frau Steiner mit dem Ballettunterricht begonnen. Sichtlich stolz schildert sie uns vergangene Auftritte auf der Freilichtbühne. Da ihr Vater immer Angst hatte, ihr könnte auf dem Weg nach Hause vom Ballett etwas zustoßen, holte er sie stets ab. »Er hat mich nach jeder Ballettstunde von der Straßenbahnhaltestelle abgeholt. Ich musste immer die ganz genaue Uhrzeit sagen, wann er da sein sollte, wehe mir, ich war eine Minute zu spät.«

Gertraud Steiner

Ihre meiste Freizeit verbrachte Frau Steiner in den Höfen der Werkswohnungen der Gaswerkkolonie. Die Kolonie zeigte sich sehr sozial und stiftete den Kindern der Bewohner ihren eigenen Spielplatz. »Wir hatten ein Karussell, eine Turnstange, eine Schaukel und einen Sandkasten für die ganz Kleinen, so was wie wir hatte nicht jedermann«, erinnert sie sich sichtlich erfreut. Neben dem Maikäfer- und Kastaniensammeln spielte sie mit ihren Freundinnen auch gerne einmal das altbekannte »Himmel und Hölle«, welches mithilfe eines Steins oder einem Stück Kreide aufgemalt wurde. »Ich hatte zwei beste Freundinnen. Eine von ihnen hat direkt neben mir gewohnt und ist auch mit mir zur Schule gegangen.« Spielsachen in Hülle und Fülle waren für damalige Zeiten eine Illusion. »Wir haben nur wenige Spielsachen gehabt. Ich hatte zum Beispiel eine Puppe ohne Kleider.« Langeweile kam trotzdem nicht auf, nicht einmal im Winter. »Mein Vater hat mich und meinen Bruder, wenn es kalt genug war und Schnee lag, immer auf den Tisch gesetzt, uns die Schlittschuhe unten an die Schuhsohlen hingeschraubt und uns dann auf die Straße gestellt. Dort sind wir gefahren, Autos gab es ja nicht so viele, die uns hätten stören können.« Wenn es ­dämmerte, mussten Frau Steiner und ihr Bruder stets zu Hause sein. »Ich war ein braves Mädchen, ich war immer pünktlich zu Hause, mein Bruder hingegen hat das mit den Uhrzeiten nicht immer so genau genommen und es wurde ihm auch immer übelgenommen, aber nicht so sehr wie mir, allgemein durfte er eigentlich etwas mehr wie ich. Ich war eben ein Mädchen.« Im Sommer ging Frau Steiner gerne an die Wertach oder in das kostenlose Plärrer-Freibad. »Wir sind von der Wertach in das Plärrer-Bad und wieder zurück, je nachdem wie wir Lust hatten. Die Jungs sind manchmal heimlich in das Plärrer-Familienbad, was 20 Pfennig Eintritt kostete, ich habe mich so was nie getraut.« Die Familie hatte oftmals mit Geldproblemen zu kämpfen. Aus diesem Grund war nur einmal wöchentlich Waschtag.

»Ich habe immer mit meinem Bruder zusammen gebadet. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie das Wasser danach ausgesehen hat.«

»Wir durften auch kein Licht anmachen, weil meine Mutter an allen Ecken und Enden sparte. Wir hatten dann immer eine Kerze im Badezimmer stehen, das musste reichen.« Dafür besaßen Frau Steiner und ihr Bruder jeweils ein ­eigenes Zimmer. Außerdem verfügte ihre Wohnung über eine eigene Toilette und einen Gasofen sowie ein kleines Stück Garten, was nicht selbstverständlich für die Gaswerkkolonie war. »Das war damals richtiger Luxus.« Ein Kühlschrank gehörte zu jener Zeit noch nicht zu diesem Luxus, Lebensmittel wurden mit Hilfe von Eisblöcken gekühlt.

»Da sind Pferde mit Anhängern gekommen, die das Eis direkt vors Haus gebracht haben, und dann hat man das in den Keller gelegt.«

Sonntags ging die sehr religiöse Mutter mit ihrer Tochter oftmals in den Gottesdienst der Kirche St. Peter und Paul. »Ich habe mich manchmal richtig darauf gefreut, denn für die Kirche durfte man sich immer schick anziehen.« Doch manchmal ließ sich sogar die so brave Frau Steiner zum Schwänzen der Kirche überreden. »Ich war nicht immer in der Kirche – dennoch war ich ein braves Mädchen«, sagt sie uns und ein Lächeln wandert über ihr Gesicht.
Als Kind war sie oft kränklich. »Ich weiß von Erzählungen meiner Mutter, dass ich Keuchhusten hatte, und die englische Krankheit, bei der die Knochen weich werden und sich verformen können. Heute kann man da was dagegen machen, aber damals war das eine andere Zeit. Wir hatten nie genug zu essen. Mutter hat wortwörtlich alles stehen und liegen gelassen, um mich bei einer Krankheit an die frische Luft zu bringen.«

Als wir auf das Thema Musik zu sprechen kommen, muss Frau Steiner heimlich schmunzeln. »Das werdet ihr nicht mehr kennen, und wenn doch, dann nicht mögen. Mein Lieblingslied war damals: ›Wenn der weiße Flieder wieder blüht‹, Schlager eben – mein Bruder war mehr ein Rocker, der hörte gerne Elvis Presley. An meine erste Platte kann ich mich leider nicht mehr genau erinnern. Da war ich aber auch schon älter.« Geburtstage wurden in der Familie nicht stark gefeiert, dafür Weihnachten. »Ich habe an Weihnachten einmal bitterlich weinen müssen, weil mein Bruder eine tolle Eisenbahn geschenkt bekommen hat und ich nur einen Kleiderstoff. Was hätte ich denn bitte mit einem Kleiderstoff anfangen sollen?«, fragt sie uns in gespielter Empörung. »Daraufhin hat mir meine Mutter versprochen, wenn sie einmal wieder Geld hat, kauft sie mir auch was Schönes – ich habe dann mal ein Kleid bekommen.«

Gertraud Steiner Über die amerikanische Besatzung kann Frau Steiner nur Gutes berichten. »Die waren wirklich alle immer sehr nett zu uns, vor allem mir als Mädchen gegenüber. Mädchen haben sie generell gerne gesehen, aber sie sind uns nie zu nahe gekommen oder so was in der Art.« Vor den Afro-Amerikanern habe sie zunächst Angst gehabt, aber nicht, weil sie bösartig waren, sondern einfach etwas Neues für die Kinder. »Zu den Amerikanern fällt mir gerade noch was ein. Mein Onkel hatte eine Wirtschaft, den Bayerischen Löwen, in dem oft Amerikaner verkehrten. Einmal – ich denke, ich werde so 12—13 Jahre alt gewesen sein – hat mir dort ein Amerikaner 30 Dollar geschenkt. Das war damals sehr viel Geld. Ich habe das dann meiner Mutter gegeben, da ich nichts mit Dollar anfangen konnte«. Von dem umgetauschten Geld kaufte sich Frau Steiner eine nagelneue Jeans. Mit einem stolzen Lächeln erzählt sie uns, dass sie das erste Mädchen im Gaswerk mit einer Jeans gewesen sei. »Mensch, waren da die anderen neidisch auf mich, das hättet ihr sehen sollen.« Zum Abschluss bitten wir Frau Steiner um ein Resümee über ihre Kindheit in Oberhausen. Etwas niedergeschlagen und mit traurigen Augen fängt sie an: »Wisst ihr, auch wenn ich nicht viel hatte, hatte ich dennoch eine schöne Kindheit, im Vergleich zu den damaligen Bärenkellern oder Hettenbachern, die wirklich rein gar nichts hatten. Mittlerweile erinnert kein Stück mehr an das damalige alte Oberhausen, alles ist neu aufgebaut und verändert worden, zudem ist niemand mehr dort, den ich kenne. Unsere alte Wohnung ist renoviert worden, ich wollte einmal reinschauen um der alten Zeiten willen, die neuen türkischen Besitzer haben mich nicht mehr reingelassen. Damit habe ich dann auch mit Oberhausen abgeschlossen, auch wenn ich schweren Herzens von dort weggezogen bin.«

Text: CHRISTIAN SPÖRL, SEBASTIAN KIERA & MATTHIAS ABBT